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Jahrestag des antisemitischen und
rassistischen Anschlags von Halle

Dieser Text wurde veröffentlicht am:

9. Oktober 2022

Am 9. Oktober 2019 versuchte ein extrem rechter Attentäter an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, mit Gewalt in die Hallenser Synagoge einzudringen. Sein Ziel war es die dort versammelten Menschen zu töten. Sein Versuch...

...die verriegelte Eingangstüre der Synagoge durch zahlreiche Schüsse und selbstgebastelte Sprengsätze zu überwinden scheiterte. Daraufhin erschoss er eine Passantin und griff anschließend den „Kiez-Döner“ Imbiss an, wobei er eine Person ermordete. Auf seiner Flucht verletzte er zwei weitere Menschen schwer. Während des Prozesses, der vom 21. Juli bis zum 21. Dezember 2020 vor dem Landgericht Magdeburg stattfand, meldeten sich zahlreiche Überlebende und Angehörige sowie ihre Anwält*innen zu Wort.

Die Sicherheitsbehörden gingen schnell von einer extrem rechten Tat und einem antisemitischen und rassistischen Motiv des Täters aus. Dieser filmte die Tat mit einer Helmkamera und streamte sie live ins Internet. Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, dass das Internet für rechte Akteur*innen und Organisationen in den letzten Jahrzehnten massiv an Bedeutung gewonnen hat. In den sozialen Medien und Videoplattformen werden rassistische, antifeministische und antisemitische Propaganda verbreitet und Sympathisant*innen und Nachamer*innen rekrutiert. Die Erzählung des Täters als Einzeltäter lässt sich hiermit  wiederlegen. Zwar gehörte er, wie bisher bekannt ist, keiner organisierten extrem rechten Gruppierung an, jedoch radikalisierte und vernetzte er sich im virtuellen Raum.

An diesem Jahrestag wollen wir den Fokus jedoch nicht auf den Täter des Anschlags richten. Aus diesem Grund möchten wir auf ein Interview aufmerksam machen, welches Stella Shcherbatova, Beraterin für von Antisemitismus Betroffene bei der Fachstelle m² im NS-Dokumentationszentrum und Mitglied der Synagogen-Gemeinde Köln sowie Hans-Peter Killguss, Leiter der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus im NS-Dokumentationszentrum, letztes Jahr mit Esther Dischereit geführt haben. Ester Dischereit hat viele eindringlichen Texte und Reden von Überlebenden, Angehörigen und ihren Anwält*innen während des Prozesses in Halle in dem Buch „Hab keine Angst, erzähl alles!“ versammelt. Das Interview finden Sie hier in ganzer länge (https://archiv.mbr-koeln.de/2021/10/09/hab-keine-angst-erzaehl-alles-ein-interview-mit-esther-dischereit-ueber-ihr-neues-buch-zum-anschlag-von-halle/).

 

Hier ein Auszug:

Shcherbatova: Im Klappentext heißt es ja auch, dass viele Betroffene in den Texten ihrem Schmerz und ihrem Zorn Ausdruck verleihen.

Dischereit: Schmerz ja, manche Menschen formulierten Wut. Ich selber weiß jedoch nicht, ob Zorn oder Wut überhaupt passen können für dieses Geschehen. Da tritt jemand an, der Menschen ihr Menschsein aus antisemitischen, rassistischen und misogynen Motiven heraus abspricht und es nicht bereut. Ein Täter, der sich mit seinen Äußerungen und seiner Tat an einer Stelle positioniert, die vollständig außerhalb des Konsenses ist, wie wir miteinander leben wollen. Im Grunde fehlt mir noch immer die Sprache, das zu beschreiben. Der Täter bewegte sich vor dem Hintergrund von White Supremacy, einer kruden und militanten Auslöschungsideologie, die gleichzeitig eine reale Bewegung darstellt. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, wie wichtig es ist, dass die Gefahr dieser Strömung deutlich erkannt, sie verfolgt und bestraft wird. Es gibt einen Überlebenden, Conrad Rößler, der formulierte an die Adresse des Attentäters: „Du hast das Recht zu leben. Nur nicht mehr mit uns“. Das finde ich auch sehr beeindruckend. Conrad Rößler war nicht in der Lage, am Prozess teilzunehmen, das konnte er nicht verkraften. Aber diese Worte hatte er seinem Nebenklagevertreter mitgegeben.

 

Killguss: Schon in den Medienberichten über den Prozess bekam man einen Eindruck davon, welche Kraft und welchen Mut die Überlebendenden vor dem Gericht gehabt haben müssen. Es ist sicher ein sehr belastender oder ein retraumatisierender Moment, dort anwesend zu sein und die Aussagen des Täters mitzubekommen. Wie haben Sie das erlebt und wie ist das in das Buch eingeflossen?

 

Dischereit: Das ist eine sehr richtige Beobachtung. Die von dem Anschlag Betroffenen haben sehr großen Wert darauf gelegt, zurückzuweisen, dass sie sich ausschließlich in einer Opferrolle befinden müssten. Sie waren ausgesprochen rede- und handlungsmächtig und haben über dieses aktive Teilnehmen an dem Prozess – ob durch Statements, die sie den Nebenklagevertreter*innen mitgegeben haben oder persönlich – sich selbst als Menschen gesetzt, die ihre Angelegenheit in die eigene Hand nehmen können und wollen. Und in diesem Sich-aussetzen-können der Situation, so belastend sie auch ist, finden sie auch gleichzeitig die Kraft, sie zu überwinden.

Das hat ganz unterschiedliche Formen angenommen. Ein ganz wichtiges Moment ist es geworden, dass es den Betroffenen selbst möglich war, sich zusammenzuschließen. Sie haben sich untereinander darin bestärkt, das Wort zu ergreifen. Die Menschen im „Kiez-Döner“, wo der Täter „Nahöstler“ vermutete, die er auslöschen wollte, die Leute in der Synagoge, und auch die Leute, die der Täter auf seiner Flucht in Wiedersdorf verletzte; diese alle versuchten nach Kräften, eine gemeinsame Stimme zu finden.

Eine bedeutende Rolle spielten dabei die Nebenklagevertreter*innen. Ihnen ist es gelungen, eine Art „Schirm“ über den Betroffenen aufzuspannen, was diese ermutigte zu sprechen. Darin haben sie ihre Kraft gefunden. Nicht nur dem Attentäter gegenüber treten zu können, sondern auch klare Botschaften formulieren zu können, die sich an die Gesellschaft richten: gegen Antisemitismus und Rassismus, gegen jede Form von Ausgrenzung. Eine überlebende Person, Sabrina Slipchenko, formulierte den Satz: „Ich bin nicht in erster Linie Jüdin. Wir sind Menschen, die auch Jüdinnen sind, die auch queer sind, die auch Linke sind.“ Sie hat in diesem Sinne versucht, Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen von rechtsextremer Ideologie betroffen sind, als eine Position anzusprechen.

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