Rechtsesoterischer Geschichtsrevisionismus
Dieser Text wurde veröffentlicht am:
20. Mai 2023
Deutschlandweit konnte in den letzten Jahren und vor allem seit dem Auftreten der Corona-Pandemie beobachtet werden, wie viele politische Standpunkte, Ideologiefragmente und Glaubenssätze der extremen Rechten von einem, vor allem durch AfD-bestimmte mediale Diskurse und Verschwörungserzählungen radikalisierten bürgerlichen Milieu übernommen wurde,...
...das sich selbst nicht als rechts versteht. Trotz Bemühungen ist es der militanten Neonazi-Szene nur sehr vereinzelt gelungen an diese Bewegung anzudocken. Alles in allem schwächeln militante rechte Bewegungen – ganz im Gegensatz zur AfD und ihrer Vorfeld-Organisationen und zu verschwörungsideologischen Milieus aus Reichsbürger*innen, selbsternannten Querdenker*innen und rechten Esoteriker*innen. Wie nicht nur die AfD sondern auch letztgenannte Mischszenen den neonazistischen Strukturen erfolgreich das Wasser abgraben und die teils identischen Inhalte neu verpackt einem breiteren und diverseren Publikum schmackhaft machen, zeigt exemplarisch eine aktuelle Veranstaltung in Remagen und im Ahrtal. Nachdem im letzten Jahr erstmals seit vielen Jahren der neonazistische Gedenkmarsch, an die in den alliierten Rheinwiesen-Lagern gestorbenen deutschen Kriegsgefangenen, wegen mangelnder Beteiligung ausgefallen war, wird das Thema inzwischen vom verschwörungsideologischen, rechts-esoterischen Milieu bespielt. Schon im letzten Jahr fand die mehrtägige völkisch-esoterische Veranstaltung „Walk am Rhein“ u.a. auch in Köln statt (wir berichteten). Aus derselben Szene rund um den Verschwörungsideologen William Toel wurde auch dieses Jahr ein „Rheinwiesenlagertreffen“ vom 10. bis zum 12. Mai beworben und mit etwa 50 Teilnehmenden durchgeführt, wie die Antifaschistische Recherche Oberberg (AROB) dokumentierte (hier und hier) Die Organisator*innen und Aktivist*innen entstammen einem eher bürgerlichen Milieu, bewegen sich überwiegend in verschwörungsideologischen und in rechtsesoterischen Kreisen und benutzen einen von der Coaching- und Heiler*innenszene geprägten Jargon. Extrem rechte Haltungen, völkisches Denken, Antisemitismus und die Leugnung der Shoah werden mit schamanischen Ritualen, abstrusen Verschwörungsmärchen und hippiesken New-Age Kreistänzen verknüpft, wie AROB berichtet und an zahlreichen Beispielen deutlich aufzeigt.
Der „klassische“ Neonazi hat in der sich selbst als „bürgerlicher Mitte“ verstehenden Mehrheitsgesellschaft zu Recht ein schlechtes Image und wird auch von den meisten politischen Entscheidungsträger*innen als Gefahr für Demokratie und die pluralistische Gesellschaft wahrgenommen. Aber weitaus schwerer tun sich Medien, Politik, Polizei, Justiz und Zivilgesellschaft - inklusive vieler antifaschistischer Gruppen – derzeit mit der Einordnung dieser verschwörungsideologischen Milieus. Zu oberflächlich ist die Beschäftigung mit extrem rechter Ideologie, zu sehr verharren Medien und Behörden auf einem längst veralteten Bild wie ein „Rechter“ auszusehen und zu reden habe, zu sehr prägt eine Extremismustheorie die medialen Diskurse, die menschenfeindliche Einstellungen abseits der sogenannten „Extremen“ ignoriert. (Hier möchten wir gerne auf Seite 51 ff der Broschüre der Kolleg*innen der MBR Ostwestfalen-Lippe verweisen). Diese Einstellungen sind jedoch nicht weniger gefährlich, wenn sie in der sogenannten „Mitte“ auftreten, eher im Gegenteil. Nicht nur zahlreiche Straf- und Gewalttaten bis hin zum Mord (Idar-Oberstein) aus den Reihen des verschwörungsideologisch radikalisierten Bürgertums im Zuge der Corona-Pandemie, sondern auch die Aufdeckung verschiedener rechtsterroristischer Bestrebungen aus der Reichsbürger*innen und Pandemieleugner*innen-Szene zeigen die konkrete Gefahr. Und nicht zuletzt finden Antisemitismus, völkisches Denken, Geschichtsrevisionismus, Antifeminismus, esoterische Wissenschaftsfeindlichkeit und weitere Fragmente extrem rechter Ideologie durch die sich selbst als „liebevolle Herzmenschen“ verstehenden, antiaufklärerischen Mischszenen eine immense Verbreitung, die weit über die Zielgruppen klassischer Neonazi-Propaganda hinaus geht. Neonazistische, extrem rechte Standpunkte werden so salonfähiger. Davon profitieren dann auch wieder die „klassischen“ militanten Neonazis, wie sich z.B. an den YouTube-Erfolgen des Dortmunder Gewalttäters Steven Feldmann zeigen lässt. Diese Entwicklung ist erschreckend und bedroht nachhaltig unsere Demokratie und das gleichberechtigte und friedliche Zusammenleben in einer pluralistischen Einwanderungsgesellschaft. (dp)